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Vom Bewerten zum Begleiten- warum wir Kinder nicht mehr be-werten dürfen!

Seit ich ein altes Tagebuch mit den fein säuberlich notierten Noten gefunden habe, geht mir immer wieder unser altes Bewertungskonzept durch den Sinn. Als ehemalige Grundschullehrerin betraf mich dieses Thema ja tagtäglich in irgendeiner Form. Zwar hab ich nur selten Noten verteilen müssen, da es in Englisch keine gibt und ich immer nur in der Jahrgangsmischung mit erster und zweiter Klasse gearbeitet habe. Den Druck und den Stress, den Noten oder Punkte erzeugen, aber habe ich immer mitbekommen. Ich habe im Laufe der Zeit immer mehr versucht, und dies ist ein Prozess, also versuche ich es immer noch, mich von meinen eigenen Werturteilen zu befreien.





Viele Menschen sind auch heute noch der Auffassung, dass eine Bewertung, vor allem durch Noten unbedingt notwendig sei. Aber das stimmt nicht. Überlegen wir uns mal, was eigentlich dahinter steckt. Das Wort Be-wertung bedeutet, dass ich jemandem einen Wert zuteile. Der Lehrer, der Professor, der Arbeitgeber, der Ausbilder und viele andere bewerten immer, was das Zeug hält. Sie schätzen ein, welchen Wert ein anderer Mensch, oder sein Tun, hat und sei es auch nur in diesem einen Bereich. Natürlich wird es jetzt den ein oder anderen geben, der das übertrieben findet. Aber wir müssen uns vor Augen führen, dass genau das eben wirklich im Wort Bewertung steckt.


Aber, wie kann ich es mir anmaßen, einen anderen Menschen, sei es einen Grundschüler, ein Kindergartenkind oder einen Mitarbeiter zu be-werten? Was berechtigt den einen Menschen über den anderen zu urteilen? Ein Studium, eine Ausbildung, ein Beruf, die Hierarchie? Die höhere Stellung im System? Wie wäre es denn, wenn Schüler Lehrer be-werten würden oder Kinder Eltern, oder Arbeitnehmer den Chef? In den meisten Fällen undenkbar beziehungsweise nur pro Forma und nicht als echte Frage gemeint (Wer übermittelt schon wirklich die gesamte eigene Wahrheit im Mitarbeitergespräch???) Es geht also meist um ein Machtgefälle. Der Mächtigere darf den weniger Mächtigen be-werten. Und diese Macht wird durch gesellschaftliche Rollen zugeteilt, sie ist einfach mit der Rolle des Lehrers, des Professors, des Arztes, des Erziehers verknüpft und nicht durch das Erarbeiten von Respekt, Integrität oder Können des jeweiligen Individuums entstanden. Man zieht diese Rolle an, wie eine Jacke, die Macht, bewerten zu dürfen gehört irgendwie dazu. Wie lange würden wir wohl noch in dieser Form be-werten, wenn wir den Spieß wirklich mal umdrehen? Was würde sich an Schulen ändern? Was würde sich in Unternehmen ändern oder an Unis?

Man kann es sich nur erträumen...



Trotzdem gehen die meisten Menschen, auch wenn sie nicht mal einen Beruf haben, der sie dazu gewissermaßen durch diese gesellschaftliche zugeschriebenen Rollen auffordert, durch ihr leben und bewerten und schätzen ihre Mitmenschen ein, fast ohne Pause und das Beste ist: ohne sich selbst mal auf diese Art und Weise krititsch zu hinterfragen. Gehen wir einmal in uns, wie viel Be-wertung, wie viel Urteil und Verurteilung in unserem Alltag zusammen kommen. Wie viele Personen und Dinge wir jeden Tag munter und lustig be-werten ohne gewisse Hintergründe zu kennen, geschweige denn selbst bereits erlebt zu haben. So, zum Beispiel: Das Kind ist nicht schnell genug fertig, der faule Nachbar liegt wie immer noch im Bett, die Müllabfuhr ist zu langsam auf der Straße, der Opa auf dem Moped zu verschlafen, die Kollegin wieder unmöglich angezogen und die Haare auch nicht frisch gewaschen, die Kinder zu laut, die Kunden zu frech usw. Selbst, wenn wir uns selbst nicht bewusst hinterfragen, so be-werten wir auch unseren Körper und unser Verhalten, unsere Leistung ständig, aber unterbewusst. Und zwar sind es leider meist ebenfalls verurteilende Gedanken, die sogar unserer Gesundheit schaden können, z.B. wenn wir finden, dass jemand schöner, schlauer oder sonstwie besser ist als wir, erzeugt das unterbewusst schlechte Gefühle in unserem Körper, mit denen er klar kommen muss. Deshalb sind wir ja so erpicht darauf, andere klein zu halten, damit wir uns besser fühlen. Das Be-werten wurde uns quasi in die Wiege gelegt und leider somit auch das Verurteilen. Wenn ich als Kind nicht "aus der Reihe tanzen" durfte, be-werte ich Kinder, die das heute tun geringer als Kinder, die sich anpassen. Wenn ich als Kind in einem gewissen Outfit nicht vor die Tür durfte, gestatte ich das heute anderen Menschen auch nicht. Wir sind damit aufgewachsen, Dinge zu werten und wir fühlen uns im Be-werten sicherer als in der Akzeptanz, die Dinge so anzunehmen, wie sie sind. Auch wenn die Be-wertung daran gar nichts ändert und zudem noch subjektiv ist.


Jeder bewertet vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen. Je härter man selbst als Kind bewertet oder gar verurteilt wurde umso härter zieht man später auch mit anderen ins Gericht. So kommen unter anderem sehr große Unterschiede zum Beispiel bei der Notenvergabe zustande. Es gibt schon Jahrzehnte lang Studien, die belegen, dass ein und derselbe Schüler in einer anderen Klasse oder Schule eine ganz andere Note für ein und dieselbe Leistung erhalten würde. Die variierende Vergleichsgruppe spielt dabei eine Rolle, sowie die Überzeugungen der Lehrkraft. So erzielen Kinder auch durchschnittlich bessere Leistungen, wenn der Lehrer oder die Lehrerin an den Erfolg der Schüler glaubt. Wie sehr glaubt wohl ein Lehrer an den Erfolg seiner Schüler, der dauernd das Haar in der Suppe sucht, weil es ihm genauso erging.


Es wird daher Zeit gesellschaftlich vereinbarte Machtgefälle wie im Lehrer- Schüler Verhältnis, Eltern- Kind Verhältnis und in vielen weiteren, wirklich auf die viel beanspruchte Augenhöhe zu bringen. Nur allein, weil ich Lehrerin bin, habe ich eigentlich nicht das Recht, mich in irgendeiner Weise wertend über einen Schüler zu äußern. Klar, habe ich das auch getan, weil es mir gar nicht bewusst war, dass es von mir so erwartet wurde, oder dass ich einfach so konditioniert war, dass da jetzt eine Be-wertung hermuss, vor allem in der Zeugnisschreiberei. Natürlich kann es in einem Austauschprozess nicht ganz ohne Einschätzen eines erreichten Ist-Zustandes gehen, zumindest im Moment noch nicht. Denn Eltern sowie die Kinder selber fordern immer wieder gern Be-wertungen ein. Jedoch sollten wir uns über die Art und Weise der Be-wertung Gedanken machen. Passt der Lernfortschritt eines Individuums in ein Schubladensystem mit 6 Zahlen? Sollte Angst damit verbunden sein? Kann unter einer gewissen Aufgeregtheit in einer inszenierten Prüfungssituation wirklich der aktuelle Leistungsstand korrekt und umfassend wiedergegeben werden? Dies sind Fragen, die wir diskutieren können, um der Antwort auf die Be-wertungsfrage näher zu kommen.


Des Weiteren fragt sich, bei so viel Subjektivität in der Be-wertung verborgen ist, ob der Sinn der Be-wertung überhaupt erreicht wird. Welchen Sinn hat denn eine Be-wertung? Ein Grund wäre, dass man zum Beispiel nach der Schulzeit wissen möchte, ob man zum Beispiel in der Lage wäre, ein Studium gut zu absolvieren. Oder nicht? Reicht es nicht eigentlich wenn man die Schüler nicht vorverurteilt? Kann man nicht an der jeweiligen Stelle, an der man sich bewerben möchte nachweisen, ob man geeignet ist? Könnten nicht Ausbildungsbetriebe, Berufsschulen und Unis transparente Kriterien liefern, die man erst dann in Gesprächen oder eventuellen Prüfungen nachweisen muss? Wie würde das das Verhältnis von Schülern und Lehrern ändern? Wenn der Lehrer nicht immer dieses Druckmittel in der Hand hätte bzw. in der Hand haben müsste? Würden die Schulen dann praktischer arbeiten und die Schüler eher wissen, was sie wollen, anstatt nur einen guten Notendurchschnitt?


Was heute für Druck aufgebaut wird, bereits in der Grundschule finde ich bedenklich. Da fühlen sich Kinder als Versager, wenn sie mal eine 3 bekommen. Da machen Lehrer Angst, dass die Kinder so nicht aufs Gymnasium kommen, da wird selektiert bevor die Kinder überhaupt wissen, wofür sie sich begeistern. Tja, Noten reichen nicht fürs Abi, Arzt, Anwalt und Lehrer fallen dann wohl als Berufswunsch in der vierten Klasse schon mal raus. Auch die Eltern mischen fleißig mit im Berufe- und Notenbingo und trimmen die Kinder oft über ihre natürlichen Grenzen hinaus zu Leistungen, in Fächern, die das Kind vielleicht gar nicht interessieren. Hauptsache eben gut, 1 maximal die 2 ist noch okay, aber da müssen wir dann schon mal über Förderung nachdenken- Kindheit ade!


Ganz zu schweigen, was nebenbei plump fallengelassene Wertungen ob verbal oder in Notenform für Schaden anrichten können. Welche negativen Glaubenssätze in Kindern und auch noch in Erwachsenen entstehen, wenn man in eine gewisse Schublade einsortiert worden ist. Wie hilflos man sich fühlt, wenn man etwas einfach nicht kann. Zum Beispiel: Ich bin nicht gut genug, ich schaffe das sowieso nicht, ich kann das nicht, ich bin zu dumm (alles natürlich im schlimmsten Fall), aber das ist echt an der Tagesordnung für manche Menschen. Und was man glaubt, ist so mächtig, dass es dann am Ende tatsächlich so kommen kann, wenn man sich nicht bewusst macht, woher diese Überzeugungen kommen. So denkt ein Mensch, wegen eines unreflektierten Mathelehrers, sein Leben lang, er kann nicht rechnen, oder er ist ungeschickt im Werken oder unsportlich. Dabei werden in der Schule immer nur recht kleine Ausschnitte aus der gesamten Spannbreite eines Faches angeboten, beziehungsweise überbetont. So wird im Sport kaum Yoga angeboten, oder in Mathe meist viel zu wenig Geometrie gelehrt, im Werken gibt es keine guten Noten auf Einfallsreichtum, sondern es wird meist alles nur am erfolgreich nachgebauten Werkstück festgemacht.


Unsere Gesellschaft ist durchsetzt vom Werten, und Urteilen, alles ist auf Leistungsüberprüfung ausgerichtet, nicht auf Freude am Lernen oder aus Freude an der Tätigkeit um ihrer selbst willen. Es wird im Fernsehen, in den sozialen Medien ohne Ablass aufeinander rumgehackt, was das Zeug hält. Ist das noch schön? Klar, hat dann jedes Kind spätestens bei Schuleintritt gelernt, dass es schlecht ist Fehler zu machen. Obwohl doch Fehler der beste Lernmotor überhaupt sind. Es könnte so viel schöner und freier sein, wenn wir uns alle trauen würden zuzugeben, wenn wir nicht weiterwissen, wenn wir Hilfe brauchen. Stattdessen haben Kinder schon im zarten Alter von 6 Jahren Angst, eine Frage zu stellen, weil sie zu diesem Zeitpunkt bereits verinnerlicht haben, dass dann der Lehrer denken könnte, man weiß etwas nicht, was man wissen sollte. Viel lieber sollte ein Lehrer oder sonstwie Ausbildungsbefugter eher wie ein Freund sein, vor dem man keine Maske tragen muss, der einen liebevoll begleitet. Ich habe da gerade das Bild vom Opa und Enkel vor mir, die in Eintracht im Schuppen werkeln, ohne dass hinterher eine Note verteilt wird, wo man eine Frage stellen darf, wenn man etwas noch nicht verstanden hat. Wo man etwas gemeinsam erschafft, wo sich der Lehrer mitfreut, wenn etwas gut klappt und sich in der Verantwortung dafür fühlt, wie viel Spaß dem Schüler das Lernen bereitet. Wenn die Be-wertung als punktuelle Leistungsdarstellung hinter der Begleitung als Prozess etwas zurücktreten würde, wäre schon viel gewonnen und die Schüler würden sich nicht als Objekt der Bewertung sondern als Subjekt im Lernprozess verstehen, dass etwas besser machen kann und nicht passiv einfach nur mit der Note klarkommen muss und diese meist als Endstation begreift.


Durch Be-wertung, die wissenschaftlich erwiesen subjektiv ist und die von Erwartungshaltungen abhängt, werden in den Schülern, die auch nur das leichteste Problem mit egal welchem Lerngegenstand haben, Angst und Schamgefühle ausgelöst, die durch die Gruppendynamik des gegenseitigen Vergleichens noch verstärkt werden. Jeder möchte dazu gehören, jeder möchte Dinge lernen, jeder möchte etwas gut können, jeder möchte als Experte etwas beitragen zur Gruppe, zur Familie. Und: wir sollten auch darüber nachdenken, ob jeder gerade in dieser schnellebigen Zeit alles können muss. Ich finde, ein Arzt muss nicht gut im Klettern sein, ein Pilot muss nicht gut Aufsätze schreiben, ein Bäcker muss nicht gut singen können. Wenn wir nun Kinder mit einem System aus 6 Zahlen, die später durch verschiedene Punktesysteme oder Zahlen auf dem Gehaltsschein abgelöst werden,-in eine Schublade stecken, aus der sie das Gefühl haben, nicht mehr heraus zu kommen, tun wir uns und vor allem unseren Kindern keinen Gefallen. Sie verlieren unter Umständen ganz die Lust am Lernen und können ihr gesamtes Leistungspotenzial gar nicht ausschöpfen, weil sie desillusioniert und traurig sind. Eine nett gemeinte Rückmeldung in einem Gespräch auf Augenhöhe kann nie so viel kaputt machen, wie es eine Zahl kann! Natürlich geht es nicht von heute auf morgen, ein so eingefahrenes System zu verändern. Aber es geht von unten nach oben, es geschieht durch Lehrer und Eltern, die sich Gedanken machen, die sich ihrer Macht bewusst werden und diese nicht missbrauchen, sondern sie in ein Verantwortungsgefühl für das Wohlergehen unserer Kinder im Lernprozess zu wandeln.







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