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Das Problem mit den Aufgabenlisten für Kinder in den Zeiten von Corona

Aktualisiert: 26. März 2020

Liebe Leser, danke, dass ihr hier gelandet seid. Heute möchte ich mich kurz mit der aktuellen Problematik der Aufgabenlisten für die Kinder befassen, die von Lehrerinnen und Lehrern aufgegeben werden. Ich bin selbst Grundschullehrerin und weiß um den Druck, unter dem man manchmal steht. Ich habe auch keine Kristallkugel und weiß ebensowenig, wie lange diese Situation so anhalten wird und welche Auswirkungen diese auf unser Schulsystem als Gesamtkonstrukt haben wird. Ich weiß nur eins, dass jetzt nicht der Zeitpunkt ist, Listen abzuarbeiten. Dafür möchte ich im Folgenden einige Gründe vorbringen. Viel Spaß beim Lesen.





Vorweg möchte ich sagen, dass ich mir ganz sicher bin, dass alle Eltern, die diese Listen einfordern und begrüßen, sowie alle Kollegen, die diese erstellen nur das beste für ihre Kinder und Schüler wollen. Danke dafür!


Viele Nachrichten von gestressten Eltern erreichen mich in diesen Tagen. Die Aufgaben sind zu umfangreich, die Listen zu lang oder zu kurz. Die Kinder wollen sie nicht oder nur ungern bearbeiten, die Eltern haben nebenbei in den meisten Fällen im Homeoffice zu tun und überhaupt wächst allen alles über den Kopf. Es gibt ebenso viele Meldungen von Kollegen, die länger als gewohnt zubringen, mit der minutiösen Ausarbeitung, Begleitung und Korrektur der gestellten Aufgaben. Es bleibt für mich der Schluss, dass einige Eltern gut zurechtkommen, weil sie immer ihre Pflicht erfüllen möchten und nun keine Ausnahme machen, dass andere Eltern, die in die Situation hineinspüren und selbsständig entscheiden möchten, was ihre Kinder tun sollen, sich von den Aufgaben unter Druck gesetzt fühlen und dass manche einfach heillos überfordert sind, mit sich selbst, den eigenen Gefühlen und den Gefühlen der Kinder zum aktuellen Zeitgeschehen und den strukturellen Umwälzungen, die momentan damit einhergehen.


Das ist überhaupt nicht wertend gemeint, denn wir sind alle unterschiedlich, wir gehen alle unterschiedlich mit der Welt um, schon immer- und besonders in Krisenzeiten. In meiner Wahrnehmung geht es nun darum, für alle einen gangbaren Weg zu finden, ohne dass Tränen fließen, wenn das nächste Aufgabenpaket ankommt, ohne dass eine aufreibende Situation noch künstlich zugespitzt wird.


Sicher hatten wir diese Situation noch nie, sicher ist Homeschooling, geschweige denn Freilernen, etwas womit sich die meisten auskennen noch anfreunden wollen.

Sicher liegt in unserer Gesellschaft ein hoher Stellenwert auf Bildung. Das ist auch nicht grundsätzlich verkehrt. ABER: jetzt heißt es erstmal, Ruhe bewahren, Ankommen in der Situation, für Eltern und Kinder. Und da eben jeder anders mit den Dingen umgeht, wünschte ich mir von Herzen eine Vorgehensweise seitens der Schulen, die dieser Vielfalt an Familienkonstellationen, Gemütern und Handlungsvorlieben Rechnung trägt. Ich wünschte mir, dass auch in Deutschland endlich mal ankommt, dass weder ein abgehaktes Arbeitsblatt, noch eine angesehene Unterrichtssequenz, noch ein gelesenes Buch dazu führt, dass Lernen stattfindet. Lernen ist ein intrinsischer Prozess, der beginnt, wenn wir emotional dazu in der Lage sind, uns auf ihn einzulassen.


Ein Mensch kann sich aber nur auf das Lernen einlassen, wenn er sich sicher fühlt. Nun meine Frage? Wie sollen sich Kinder sicher fühlen, wenn selbst ihre Eltern nicht wissen, wie es weitergeht? Wie sollen sie sich auf Mathe einlassen, wenn sie gar nicht verstehen, was auf einmal los ist? Wäre es nicht besser, Aufgaben komplett freiwillig zu lassen? Wer möchte, hat dann etwas zur Orientierung und wer die Zeit mal anderweitig nutzen will, der kann das auch tun und vielleicht später dazustoßen? Ist es denn so schlimm, mal ein Halbjahr mit den Noten auszusetzen? Warum eigentlich? Es gibt Länder, da gibt es gar keine Noten!


Weiterhin dürfen wir nicht vergessen, dass Eltern durchaus gute Lernbegleiter sein können, vor allem dann, wenn kein Druck seitens der Schule aufgebaut wird, vor allem dann, wenn die Kinder bereit sind zu lernen. Wer braucht in diesen Tagen zusätzliches Drama wegen ein paar Päckchenaufgaben? Nehmen wir uns da nicht viel zu ernst? Zumal es alle gleichermaßen betrifft, da hat keiner einen Nachteil. Denn selbst, wenn die Schulen offen sind, wird zu Hause ganz unterschiedlich begleitet, die einen freuen sich, wenn die Kinder in der Schule halbwegs mitkommen, die anderen kaufen selbst noch Förderhefte und investieren in Nachhilfe. Es ist so unterschiedlich. Kann es sein, dass unser Schulsystem dem generell keine Rechnung trägt?


Sollte uns in diesen Zeiten nicht wichtiger sein, dass in den Familien Frieden herrschen darf? Das französiche Bildungsministerium hat dies verstanden. In dessen Brief heißt es unter anderem: "Was Kinder jetzt brauchen, ist sich wohl und geliebt zu fühlen. Fühlen, dass alles gut wird!"


Nur wir denken wieder, dass wir perfekt sein müssen. Müssen wir nicht. Das Leben geht immer weiter, mit einem Haufen bearbeiteter Blätter oder ohne. Wissenslücken entstehen nicht, wenn Lehrer und Schule fehlen, sondern, wenn der Schüler abschaltet. Wann schaltet der Schüler ab? Wenn ihn etwas nicht interessiert, wenn er nicht mit ganzem Herzen dabei ist. Panik haben wir in diesen Tagen genug, da braucht es nicht noch die Panik seitens der Schule.


Es ist schwer genug, wenn die Kinder den ganzen Tag mehr oder weniger eingesperrt sind, da braucht es nicht noch einen Wust an Aufgaben. Lasst doch die Kinder mal selbst kreativ werden, vertraut ihnen, vertraut euch selbst, dass euer Kind immer lernt. Der Mensch kann gar nicht anders, als immer dazulernen. Es gibt Bücher, es gibt Apps, es gibt Filme, es gibt Lernspiele. Das hat alles nicht unbedingt etwas mit Schule zu tun. Lernen funktioniert heute auch ganz gut ohne Lehrer und Klassenzimmer. Das beweist die ständig wachsende Zahl an Freilernern und Homeschoolern. Zudem wäre jetzt endlich mal die Zeit, ganz in Ruhe Dinge anzuschauen, die dem Kind vielleicht bisher immer schwer gefallen sind. Aber nein, immer noch was drauf. Ich kann es einfach nicht verstehen. Ist das System so starr, dass es nicht mehr funktioniert, wenn sich mal eine andere Situation ergibt?


Habt nicht vor allem Neuen solche Angst! Schreibt das auch eurer betreffenden Schule. Geht in die Eigenverantwortung und zwingt eure Kinder um Himmels Willen nicht zum Lernen. Lernen soll Freude machen. Deshalb bin ich unter anderem damals als Lehrerin angetreten. Trefft die richtigen Entscheidungen für euch und eure Kinder. Wenn das bedeutet, die Aufgaben zu erledigen und "business as usual" zu betreiben, auch in Ordnung. Aber bitte setzt euch und die Kinder, die euch jetzt so sehr brauchen, nicht diesem Hamsterrad aus.


"Wenn ich nur darf, wenn ich soll, aber nie kann, wenn ich will, dann mag ich auch nicht, wenn ich muss.

Wenn ich aber darf, wenn ich will, dann mag ich auch, wenn ich soll, und dann kann ich auch wenn ich muss.

Denn schliesslich: Die können sollen, müssen wollen dürfen."

-Johannes Conrad (1929-2005)


Nur so wird ein Schuh daraus. Unsere Erde, wir Menschen und auch unsere Kinder, stehen jetzt vor einer Welt, die in Scherben liegt, da konnte bisher niemand etwas daran ändern, nur weil er in der Schule gut war, brav alle Aufgaben erledigt hat und besser war als der andere. Wir können die Herausforderungen unserer Zeit nur bewältigen, wenn wir zusammenhalten. Wenn wir uns unterstützen und wenn wir in Zeiten der Not jedem zugestehen, mit dieser Situation so umzugehen, wie er das selber möchte.


Es gibt so viele Dinge, für die man nie Zeit hat. Wann, wenn nicht in diesen Tagen, hat man mal die Chance als Kind, Neues auszuprobieren, zu zeichnen, ein Buch zu schreiben, den ganzen Tag Harry Potter zu lesen, oder die ganze Woche?

Gründet Buchclubs und tauscht euch per Internet aus. Lasst Kinder eigene Ideen und Projekte finden und erklärt der Schule, dass das jetzt Nummer eins auf der Liste ist und ob das Kind danach einen Vortrag über sein eigenes Projekt halten darf. Es soll doch immer individualisiert werden, oder doch nicht? Sind das alles nur leere Worthülsen? Bedeutet individualisieren und differenzieren etwa nur, dass der schnellere noch mehr Arbeitsblätter bekommt? Seid mutig! Wenn ihr etwas nicht einseht, tut es nicht und zwingt auch eure Kinder nicht dazu, es zu tun.


So kurz ist es nun doch nicht geworden. Ich würde mich freuen, wenn Lehrer, die das ähnlich sehen, diesen Beitrag oder den Brief des französischen Bildungsministeriums teilen. Unsere Kinder sollen auch nicht unter mehr Druck stehen als andere. Wir schaffen das alle gemeinsam, ganz sicher. Etwas Neues, Gutes wird daraus entstehen, wenn wir es nur zulassen.

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