top of page
Autorenbildhaendcheninhand

"Es hat uns nicht geschadet"

Einmal zu oft habe ich nun diesen Satz gehört, so dass ich nun tatsächlich endlich mal die vielen Gedanken, die ich mir im Laufe meines Lebens zu diesem Satz gemacht habe, loswerden möchte.


Jeder kennt ihn, jeder hört ihn, nicht jeder nutzt ihn. Dieser Satz ist einer der Totschlagsätze in einer Diskussion zu irgendeinem beliebigen Thema. Er kommt in verschiedenen Varianten daher: "Es hat uns nicht geschadet" ist wohl die Häufigste. Dann gibt es noch: "X,Y hat noch niemandem geschadet" oder wenn man es nur für sich selbst behaupten will: "Es hat mir nicht geschadet". Warum ist es nur, dass sich mir immer das Gefühl aufdrängt, dass es genau den Leuten, die felsenfest behaupten, etwas hätte ihnen nicht geschadet, am meisten geschadet hat?





Es liegt daran, dass es eigentlich eine gute Ausweichmöglichkeit ist, denn was soll man zu diesem Satz sagen, was könnte man erwidern? Doch, es hat dir/ euch geschadet? Das tut man ja selten, denn wer ist schon so offen und ehrlich. Also hat derjenige, der den Satz verwendet damit ein unliebsames Thema erst mal im Keim erstickt. Wer das tut, dem ist besagtes Thema wahrscheinlich unbehaglich, so dass ich erst mal wirklich davon ausgehen muss, dass hinter der Fassade mehr steckt, das ich als Gesprächspartner aber nicht sehen oder erkennen soll.


Es ist ein Satz, der sich in den meisten Fällen weder auf wissenschaftliche Studien oder empirische Erkenntnisse beruft, sondern auf subjektiv oder kollektiv erfahrende Lebenswelten bezieht. Erstaunlich ist, dass egal, um welches Thema es geht (meist ja um Erziehungsfragen oder Alltagspraktiken), man erfährt, dass derjenige sofort annimmt, dass man ihm nahelegen will, dass eine bestimmte Sache ihm geschadet hat. Man fängt zum Beispiel ein Thema an, nehmen wir Essen. Man sagt, es ist gut, dass Kinder heute nicht mehr gezwungen werden, bestimmte Sachen zu essen (was leider auch noch nicht immer der Fall ist). Anstatt ins Thema einzutauchen und zu erörtern, wie sich diese Alltagspraxis über die Jahrzehnte entwickelt hat, oder festzustellen, warum es vielleicht wirklich gut ist, dies nicht zu tun (um Esstörungen für die Zukunft zu vermeiden etc.) geht das Gegenüber sofort in die Verteidigungshaltung und nutzt unseren Totschlagsatz. Indem er dies tut, gibt er zwei Dinge eigentlich automatisch zu, nämlich, dass etwas verteidigt werden muss und zweitens, dass derjenige dieses Theme, vermutlich aus eigener emotionaler Involviertheit, nicht weiter zu besprechen gedenkt. Wenn man gleich davon ausgeht, dass man sich verteidigen muss, obwohl der andere nicht mal von früher gesprochen hat, sondern vielleicht nur neue Forschungsergebnisse oder Sonstiges aktuelles anspricht, bestätigt man eigentlich eher das Gegenteil von dem, was der Satz aussagt.


Man muss nun etwas tiefer graben. Widmen wir uns zuerst der Sache, die man verteidigen möchte mal etwas näher. Wer soll mit dem Satz eigentlich geschützt werden? Was soll beschönigt werden? Ich denke, darüber ist sich nicht jeder klar, der diesen Satz benutzt. Denn nicht immer ist man es selbst, den man verteidigen will. Man will sich nur selbst schützen und zwar vor Erkenntnis uns somit vor Schmerz, in dem man sich sagt, es habe X oder Y nicht geschadet. Meist sind es alte Strukturen und die Menschen, die die alten Strukturen oder Glaubensmuster vertreten, die Eltern, die Lehrer, die Schule, der Kindergarten, die Ärzte, die eben damals oder auch noch heute für gewisse Vorgehensweisen verantwortlich sind. Manchmal ist natürlich auch man selbst oder das eigene Verhalten, was man mit diesem Satz rechtfertigen möchte. Zum Beispiel in dem man selbst aus alten Überzeugungen heraus sein Kind noch zum Essen zwingt, oder schreien lässt oder viel zu jung in die Fremdbetreuung abgibt.


Eigentlich wissen wir mittlerweile so viel darüber, wie Menschen funktionieren, z.B. was Säuglinge brauchen, wie wir gut lernen können, was uns glücklich macht, wir haben durch viele engagierte Menschen davon gehört, wie unsere Kinder uns spiegeln, wie wir es schaffen können, sie weniger zu traumatisieren, als es uns vielleicht passiert ist, welche Dinge unserem Körper einfach schaden, wofür unser Körper eigentlich nicht gemacht ist (z.B. Handystrahlung, langes Sitzen in muffigen Klassenräumen, Fertigprodukte). Nun wäre es an der Zeit, danach zu handeln. Woher also dieser Unwille zu sagen, jawoll, das klingt plausibel, lasst uns nach vorn sehen und die Welt menschenfreundlicher gestalten?! Lasst uns freier werden! Lasst uns das Richtige tun!


Wir müssen nämlich unterscheiden zwischen der objektiven Bewertung der Tatsachen und der emotionalen Verstrickung mit den Menschen, die früher in unserem Leben vermeintlich falsch gehandelt haben. Wenn wir uns bewusst sind, dass diese Menschen auch nur den Zeitgeist verkörpert haben, dass sie auch ihr Bestes gegeben haben, dass sie wirklich dachten, sie machen etwas Gutes, dass es vielleicht damals die Umstände vielleicht einfach nötig gemacht haben, dann fällt es uns leichter zu sehen, dass es uns aber trotzdem verletzt haben kann und dass uns der Gedanke daran, wie wir behandelt worden sind bis heute Unbehagen bereitet. Und so immer noch nicht frei sind für ein besseres, friedlicheres Miteinander. Manchmal, wenn ich diesen Satz höre, sehe ich förmlich, wie mich das verletzte kleine Kind von damals anschreit, lass mich doch endlich mit dem Kram in Ruhe, ich will den Schmerz nicht fühlen, ich will meine Ruhe. Diese Ruhe findet man aber leider nicht, bis man diese Dinge einmal aufgearbeitet hat, bis man verstanden hat, warum sie so geschehen sind, warum wir das erfahren haben. Nämlich um es zu ändern, um es besser zu machen, aber das können wir nur, wenn wir uns dem stellen, unserer vermeintlichen Schwäche, unseren Ängsten, unserer Scham, nur dann können wir vorwärts schauen und uns für eine bessere Welt einsetzen.


Denn wer profitiert denn, wenn zum Beispiel Eltern heute sagen, dass der Klaps auf den Hintern ihnen nicht geschadet hat? Wer profitiert denn, wenn man sagt, dass es nicht geschadet hat, das Baby in der Wiege schreiben zu lassen? Wer profitiert, wenn man meint es wäre doch okay gewesen, das Kind zum Essen zu zwingen? Genau, die Menschen, die genauso an uns, so wie wir im Moment sind, Geld verdienen, die genau solche traumatisierten, verängstigten Menschen brauchen, die um ihren Arbeitsplatz fürchten, die denken, sie sind durch Schulnoten definiert, die ihre Meinung nicht offen sagen, die heute noch die Methoden der schwarzen Pädagogik anwenden, die einen Rückzieher machen, wenn jemand mit ein bisschen Machtgehabe daherkommt, die Herzklopfen bekommen, wenn sie mit einer vermeintlichen Autoritätsperson sprechen. Kurzum genau die Menschen, die möchten, dass alles beim Alten bleibt.


Aber es ist dafür eigentlich schon längst zu spät. Längst zeigen uns unsere Kinder die Schwachstellen des heutigen Schulsystems auf (noch vereinzelt und zum Teil durch Tabletten ruhig gestellt) aber die Anzahl der "Systemsprenger" wird jeden Tag größer, längst zeigen uns die Statistiken, dass wir immer kränker werden, dass mit unserem "Krankheitssystem" etwas nicht ganz in Ordnung ist, längst zeigen viele Freigeister, die zum Querdenken anregen, dass unser politisches System mehr eine Unterhaltungsshow geworden ist als eine Volksvertretung, Längst zeigen uns so viele Stellen, dass es an allen Ecken und Enden brodelt, weil unsere inneren Kinder einfach raus wollen, ausbrechen aus den uns selbst auferlegten Grenzen, ausbrechen aus den vielen einschränkenden Regeln, ausbrechen aus dem Gerüst aus selbst auferlegten Pflichten und Glaubenssätzen. Endlich frei zu erschaffen, zu erleben, zu gestalten, in einer Welt, von der wir verlangen dürfen, dass wir so geliebt werden, wie wir sind und nicht nur dann wenn wir so sind, wie WIR DENKEN, dass wir sein müssen.


Es kann ja sogar sein, dass es dem ein oder anderen wirklich nicht geschadet hat. Es kann ja sogar sein, dass es damals das Richtige war. Aber wir Menschen müssen nun langsam mal verstehen, dass wir die Vergangenheit nicht wieder und wieder leben dürfen, wenn wir uns weiterentwickeln wollen. Wir müssen unsere Geschichte kennen, wir müssen bei jeder einzelnen Frage überlegen, woher kommt dieses Verhalten, woher kommt dieses Denkmuster? Natürlich war Brot früher oft ein Lebensretter, natürlich war es in der Nachkriegszeit wichtig, dass die Kinder gegessen haben, wenn es etwas gab, natürlich gibt es sicher Situationen, in denen Kinder auch mal funktionieren müssen, aber oft sind es doch unsere eigenen Ängste und Grenzen, die uns heute aus der Bahn werfen. Vielleicht ist es das kleine Kind in uns, das Angst hat zu spät zu kommen (Kindergarten, Schule, Arzttermin) und deshalb das Kind unter Tränen zum Anziehen zwingt, vielleicht ist es das kleine Kind in uns, das Angst hat, seine eigene Verletzung zu spüren und sich deshalb heute noch in diesen Satz flüchtet, dass es ihm nicht geschadet hat.


Es kann mir keiner mehr erzählen, dass es ihm nicht leid tut, wenn er sich selbst als kleines Kind sieht, das sich vor etwas ekelt und es trotzdem essen musste, dass es ihm nicht leid tut, wenn er oder sie ungerecht behandelt wurde, dass es ihm nicht leid tut, wenn er nicht gesehen oder gehört wurde. Befreit euch von Gedanken, wie das muss eben so sein, das machen alle so, das war nicht so schlimm. Selbst die kleinste Kleinigkeit kann für jemanden das schlimmste Trauma auslösen, schaut hin, seid lieb zu euch, geht in die Situation zurück und überflutet euer eigenes kleines Mädchen oder den kleinen inneren Jungen mit all eurer Liebe, all eurem Verständnis.


Natürlich gibt es heute noch Situationen, die gewisse Dinge notwendig machen (frühe Fremdbetreuung, Nichtstillen, unnatürliche Geburt etc) aber deshalb müssen wir doch nicht sagen, dass es das Beste so ist und uns verletzt fühlen, wenn andere dies oder jenes anders handhaben. Auch sollten wir uns nicht fertig machen, wenn etwas eben nicht so geklappt hat, wie wir es uns gewünscht haben. Jeder kann auf sich stolz sein, für jeden kleinen Schritt, den er macht und jeder kann auf das stolz sein, was seine Eltern geleistet haben, auch wenn nicht alles richtig war. Jeder kann darauf stolz sein, wie er heute ist. Aber eins kann man nicht tun, alles auf einmal. Das wird zu viel. Daher lasst uns zusammen arbeiten, anstatt gegeneinander, lasst und ein bisschen öfter sagen, oh, das triffe gerade einen wunden Punkt, können wir das später nochmal besprechen, lasst uns alte Wunden, und wir haben alle welche, gemeinsam auflösen, aber lasst uns nicht sagen, es hat uns nicht geschadet, wenn wir eigentlich genau wissen, dass es uns geschadet hat. Das sind wir unseren Kindern und unseren inneren Kindern einfach schuldig! Der Weg muss nach vorn gehen!!!



217 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Comments


bottom of page